Geordnetes Weltbild
Marc Wilhelm Küster: Geordnetes Weltbild. Die Tradition des alphabetischen Sortierens von der Keilschrift bis zur EDV. Eine Kulturgeschichte. Niemeyer: Tübingen, 2006 (actually January 2007) 740 pages. 58 figures. EUR 74.– / SFr 127.–, ISBN 13: 978-3-484-10899-8, ISBN 10: 3-484-10899-1
Ein Zufall vielleicht, aber ein glücklicher: Zeitgleich zur Eröffnung des Jahres der Geisteswissenschaften in Berlin unter dem Titel ABC der Menschheit ist auch das Buch Geordnetes Weltbild. Die Tradition des alphabetischen Sortierens von der Keilschrift bis zur EDV im Max-Niemeyer-Verlag erschienen. In einem großen Bogen von sumerischen Keilschriftlisten bis zu modernen Codetabellen entwickelt das Werk die Geschichte unseres Alphabets im Spiegel der Buchstabenabfolgen nebst ihrer vielfältigen Nutzungen und entwirft so eine umfassende Kulturgeschichte des elementarsten Wissens unserer Literalität, des ABCs – denn was scheint so selbstverständlich zu sein wie die Abfolge des A, B, C usw.? Wie aber und wieso bekam jeder Buchstabe seine Position in dieser Kette und wie wurde diese Reihenfolge über die Jahrtausende hinweg immer wieder neu verwendet und interpretiert?
Entstanden ist ein schriftwissenschaftliches Werk mit vielen Einsichten für Linguistik, Semiotik und Kulturwissenschaft – gleichsam die Geschichte vom “ABC Europas”, ein “fulminantes, spannendes, ungemein gelehrtes Buch” (Zeitschrift für Bibliothekswesen, 2008, Heft 2), “an important contribution to the cultural history of humankind” (International Review of Biblical Studies, 53 (2006/2007).
Das Nachwort — im Druck Kapitel 18 (S. 665-668) — lässt wesentliche Ergebnisse des Buches Revue passieren:
Wir haben nun einen Parcours durch fünfeinhalb Jahrtausende Kulturgeschichte hinter uns, immer der Spur folgend, die uns durch die Schrift und speziell durch die Anordnung ihrer Zeichen gelegt wurde.
Eine wichtige Erkenntnis stand schon am Anfang: Die Phänomene Schrift und Sortierung sind zusammen entstanden. Das immer stärker entpersonalisierte Wirtschaftssystem der sich komplexifizierenden sumerischen Stadtstaaten schuf die Notwendigkeit, den Überblick über eine unübersichtlicher werdende Lebenswelt zu sichern. Neben dem sumerischen Schriftsystem an sich wurde dessen interne Anordnung dafür zu einem zentralen Mittel — in einem Maß, dass dieses sekundäre Charakteristikum des Schriftsystems mit der Ordnung des sumerischen Weltbildes verschmolz. Die Art der Schriftvermittlung trug das Ihrige dazu bei, die Akzeptanz dieser Zeichenreihenfolgen zu verfestigen.
Die lexikalischen Listen verkörperten in der sumerischen Tradition Schreiben und Wissen so sehr, dass sich die von dieser Tradition geprägten Kulturen auch später Schriftsysteme nur mit einer semantisch begründeten Anordnung vorstellen konnten. Das gilt auch für das semitische Alphabet, das im zweiten Jahrtausend vor Christus nach dem akrophonischen Prinzip und zweifellos unter ägyptischem Einfluss, aber, wie ich vermute, ursprünglich ohne innere Anordnung entstanden ist. Wir haben zwei konkurrierende, bis heute praktizierte Anordnungen dieses Alphabets gesehen, die wahrscheinlich im sumerisch geprägten phönizisch-syrischen Raum nachträglich hinzugefügt worden sind. Zumindest die nordsemitisch-phönizische Anordnung war dabei semantisch motiviert.
Dieses phönizische Alphabet wurde samt seiner Anordnung vermittels der griechischen und etruskischen auch die Basis der lateinischen Schrift und somit aller westeuropäischen Alphabete. Bei der zeitlichen und räumlichen Transmission der alphabetischen Anordnung sind in allen Epochen — in der Antike, im Mittelalter und in der Neuzeit — gegenläufige Kräfte in Erscheinung getreten: einerseits das Beharrungsvermögen einer von außen übernommenen oder in der Kultur selbst etablierten Buchstabenreihenfolge, die sich Änderungen strikt verweigerte. Diese konservative Tendenz wurde durch die Unterrichtspraxis und bei neu übernommenen Alphabeten durch den Respekt vor der oft als höher empfundenen Ausgangskultur verstärkt.
Mit dieser auf Tradierung der alphabetischen Anordnung ausgerichteten Kraft konkurrierte, wie gesehen, immer wieder der Wunsch, das Alphabet und seine Anordnung selbst zum Gegenstand des Diskurses zu machen, sei dieser nun wirtschaftlicher, sprachtheoretischer, semiotischer oder politischer Natur. Dabei haben wir drei Stoßrichtungen gesehen, eine auf die Sprache hin orientierte, die das Alphabet als ein rein sekundäres Zeichensystem betrachtet und ein der gegebenen Phonologie angepasstes Alphabet anstrebt, eine etymologische, die Schrift und ihre Anordnung nutzen möchte, um bestimmte Traditionslinien zu verteidigen, hervorzuheben oder zu schaffen, und eine normierende, die durch ein überregional vereinheitlichtes Alphabet mit angeglichener Anordnung eine neue kulturelle Gemeinschaft, einen gemeinsamen Code konstituieren oder verfestigen möchte. Beispiele für einen solchen bewussten und folgenreichen Umgang mit Schrift und deren Anordnung waren im Rahmen dieser Arbeit unter vielen anderen die Normierung des griechischen Alphabets auf das ionische und die Konstituierung der italienischen und französischen Schriftsprache in der Renaissance.
Zwischen diesen extremen Positionen bewegte sich der pragmatische Umgang mit Schrift, Alphabet und Abecedarien, der bei allen auftretenden Variationen auch gegenüber Unzulänglichkeiten erstaunlich konservativ blieb. Als stabilisierendes Element fungierte dabei vor allem die interne Anordnung des Alphabets. Daher ähnelten sich auch zu allen Zeiten die Methoden, Änderungen an tradierten Abecedarien vorzunehmen: Die vorhandenen Buchstaben behielten in der Regel ihre angestammten Plätze bei; neue Buchstaben konnten nur durch Umdeutung vorhandener Buchstaben dazwischen einsortiert werden oder wurden nach dem letzten tradierten Buchstaben angehängt.
Seit der Antike wurde diese allgemein verfügbare alphabetische Struktur dazu genutzt, Kataloge, Wortverzeichnisse und ähnliches so anzulegen, dass der gezielte Zugriff auf ihren Inhalt für alle ermöglicht wurde. Dabei haben wir den weiten Weg von den Anfängen dieser Sortierung bis hin zum konsequent standardisierten Mehrebenenverfahren nachgezeichnet und festgestellt, dass unser eingefleischtes Ideal einer eindeutigen Sortierung nach dem Schriftbild nicht immer galt, gerade wenn die Abweichung zwischen Laut- und Schriftbild als zu groß angesehen wurde. Das führte zu Sortierentscheidungen, die der Lautqualität eines Wortes den Vorzug vor der Schriftform gaben — und die uns damit wertvolle Hinweise auf die Aussprachepraxis der jeweiligen Zeit vermitteln.
Ebenso änderte sich, wie wir gezeigt haben, mit der Zeit die Sicht auf das Alphabet selbst. Schon das hebräische Alphabet, ein naher Verwandter des Phönizischen, galt als so unhinterfragbar unverbrüchlich, dass es zum Symbol der einen integren Weltordnung werden konnte, die für den jüdischen Monotheismus gleichbedeutend war mit der göttlichen Ordnung der Welt und in entsprechenden akrostichischen Texten heraufbeschworen werden konnte.
Der Umgang der Griechen mit dem Alphabet war weniger religiös geprägt. Hier sehen wir ein erstes Beispiel, wie verschiedene Lokalalphabete identitätsstiftend für ihre Nutzer wurden — und wie sich durch eine historisch fassbare politische Entscheidung letztlich ein Normalphabet durchsetzte. Nichtsdestotrotz eröffnete hier wie da die Verwendung der Buchstaben als Zahlzeichen der Zahlenmystik Tor und Tür, so dass erneut Texten alleine durch ihre enthaltenen Zeichen eine überweltliche Metaaussage zugewiesen wurde.
Bei den Römern dagegen dominierte die Diskussion um die Angemessenheit des Alphabets für die lateinische Sprache — eine Frage, die sich bei praktisch allen entstehenden Nationalsprachen wiederholen sollte und deren jeweilige Beantwortung zu den zahlreichen Unterschieden in den westeuropäischen Alphabeten führte. Genauso kam auch die Überlegung immer wieder auf, ob es nicht eine “natürlichere” Anordnung des Alphabets gebe als die ererbte phönizische, deren semantische Anlage längst nicht mehr verstanden wurde. Es wurden neue Anordnungen propagiert, mehrheitlich phonologisch motiviert, aber auch ausgehend von der Form der Schriftzeichen. In Europa blieben sie aber im Großen und Ganzen erfolglos, so dass die Kontinuitätslinie der Sortierpraxis in Europa weitestgehend gewahrt blieb. Von Spezialanwendungen wie Mundartwörterbüchern abgesehen, hat sich in der Neuzeit die streng graphematische Anordnung durchgesetzt. Sie wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts formalisiert und als mehrstufiges Sortierverfahren auch für den Einsatz in der elektronischen Datenverarbeitung standardisiert.
Die Frage nach der “richtigen” Anordnung stellte sich im 18. Jahrhundert aber erneut auf einem anderen Gebiet, dem der Enzyklopädien. Die Rolle von Nachschlagewerken hat sich, wie wir im Verlauf ihrer jeweiligen Entwicklungsgeschichte gesehen haben, in der Aufklärung gewandelt, und es entbrannte der Streit, wie man das Weltwissen der Zeit umfassend präsentieren solle: in streng alphabetischer Abfolge der Lemmata oder nach inhaltlichen Kriterien, die durch die Struktur eines allgemein gültigen Wissensbaums vorgegeben waren.
Die Verfechter der zweiten Praxis sahen in der alphabetischen Anordnung eine rein willkürliche Konvention, die für eine organische Darstellung des Weltwissens gänzlich ungeeignet sei. Diese als alleingültig angesehene natürliche Weltstruktur wird dabei jeweils unterschiedlich motiviert, immer aber ist die alphabetische Anordnung deren Gegenbild, das unnatürliche, das teuflische Chaos.
Die Anhänger der ersten Praxis wiederum verneinten die theoretische Möglichkeit eines geschlossenen Weltbildes. Wissen und Wissenschaft ließen sich für sie nicht als ein hierarchisches System verstehen, das vom Allgemeinen zum Speziellen führt und jedem Erscheinungsbild seinen eindeutigen Platz zuweist, sondern als ein Netz von Abhängigkeiten zwischen Einzelphänomenen, die letztlich gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Die alphabetische Anordnung wird in dieser Sicht gerade durch ihre Konventionalität zu einem Vehikel, dieses offene Wissensmodell praktisch umzusetzen. Dieses wäre allerdings ohne eine neue Form der Binnenstrukturierung in Enzyklopädien, den Verweis, unmöglich gewesen. Die Kombination von alphabetischer Anordnung von Einzelphänomenen und deren Vernetzung ermöglichte es der von Diderot und d’Alembert, zum ersten Mal gezielt einen Text zu konstruieren, der im Derridaschen Sinne kein Buch, kein geschlossener Text mehr ist, sondern ein Wissensnetz, eine Einladung zu freier Semiose oder, um die moderne Terminologie zu verwenden, ein Hypertext.
In den Konversationslexika des 19. und 20. Jahrhunderts wandelt sich das Modell erneut. Das Wissensnetz tritt im Vergleich zum reinen Wissensfragment zurück, das über die alphabetische Anordnung für jeden schnell im Zugriff ist. Anstelle eines Diskurses tritt die verwertbare, vorgeblich objektive Einzelinformation in den Mittelpunkt.
Über all die Jahrtausende aber bleiben Anordnung und Wissen untrennbar miteinander verknüpft, bleiben τὰ γράμματα, bleibt das ABC Metapher für unser Wissen insgesamt. In diesem Sinne ist diese Arbeit eine grammatologische Studie zur Geschichte des Sortierens in seinen verschiedenen Facetten: als Instrument zum Wissenserwerb, als eigenständige Kultur- und Wissenstechnik und als immer wieder aktualisierter Mythos für die Ordnung der Welt.
Weitere Informationen:
Online verfügbare Rezensionen:
- Rezension in Zeitschrift für Bibliothekswesen, 55 (2008), 2
- Rezension in B. I. T. online